Uwe

Dennis

Kerstin

Jensen

Andi

Fritz

Wilfried

Andre

Ronny

Gabriel

Sašo

Stefan

Jana

Yari

Maggi

Julien

Schatten der
Gesellschaft

Die Obdachlosen von Berlin.

Eine gezeichnete Reportage
von Sebastian Lörscher


×
Uwe »Wir sind Schatten. Schatten der Gesellschaft. Wir existieren, aber der Gesellschaft sind wir doch ein Dorn im Auge. Man will uns doch eigentlich gar nicht sehen. Man redet nicht mit uns, nennt uns Penner und Asi. Wir sind den Leuten peinlich oder sie haben Angst, sich mit uns zu beschäftigen. Für die meisten sind wir doch nur 3.- oder 4.-Klasse-Menschen, für die meisten sind wir doch nur der Abschaum.«
Kerstin »Glaubst Du, es gibt Menschen, die kein Talent haben? Wenn ich eins hätte, dann wäre ich doch wohl nicht hier, oder?

Ich habe Scheiße gebaut, das weiß ich. Ich war auf Alkohol-Entzug und habe im Betreuten Wohnen gelebt. Nebenbei habe ich ein unbezahltes Praktikum in einer Klinik gemacht und mich um demente Menschen gekümmert. Bei mir haben sich die Alten wohlgefühlt. Weil ich mich für sie interessiert habe! Mir haben sie ihre Lebensgeschichten anvertraut, bei niemand anderem haben sie das gemacht. Eine Frau zum Beispiel, die nie einen Ton gesagt hat, hat auf einmal wieder sprechen können, als sie mit mir spazieren war. Schauen Sie! Ein Regenbogen!, hat sie gesagt und ich habe hochgeschaut … und da war wirklich einer!

Zwei Abteilungen habe ich quasi alleine geleitet. Meine Kollegen haben nichts anderes gemacht als rauchend im Mitarbeiterzimmer zu sitzen und gemein zu mir zu sein. An einem Tag ist mir alles zu viel geworden. Die ganze Arbeit, die lästernden Kollegen, die unendlich vielen Termine, die ich täglich wegen der Therapie hatte und die immer mehr geworden sind … Ich bin in den Supermarkt gegangen und habe mir eine kleine Flasche Rotwein gekauft. Von da an ging alles bergab. Ich bin rückfällig geworden und kurze Zeit später bin ich aus dem Betreuten Wohnen geflogen.

Jetzt bin ich hier, zwischen all den Leuten, die ständig am Rad drehen. Ich liebe sie echt alle, glaub mir. Ich verstehe mich mit allen und wir sorgen füreinander. Aber ich will einfach mal wieder sein, wo es sich normal anfühlt. Einfach mal wieder am Leben teilnehmen. Bei meiner Tochter sein, tanzend auf einer Party, singend auf einem Konzert … Ich will den Regebogen wieder sehen. Und die weißen Schmetterlinge. Hast Du sie mal gesehen, die weißen Schmetterlinge?«
Dennis »Ich bin ein Suchender nach Worten. Ich mache mir viele Gedanken über die Ängste der Menschen. Ihre Angst vor Verlust ihres Eigentums, ihrer Macht, ihres Status’, ihrer Komfortzone. Ihre Angst vor dem Fremden, vor dem, das nicht so ist wie sie. Die Menschen geben ihre Ängste weiter und projizieren sie auf ihre Kinder und die folgenden Generationen. Aus Angst entsteht Gewalt, das sieht man nicht zuletzt hier im Bahnhof. Diesen Fortlauf zu durchbrechen, dafür würde ich gerne eine Lösung finden. Wir Menschen, wir können doch alle so viel mehr als das hier. Wir alle.

Ich habe schon einiges dazu im Kopf, aber ich habe noch nicht den Eindruck, dass ich genügend Worte habe, um exakt das auszudrücken, was ich denke. Darum forste ich mich jede Nacht kreuz und quer durch den Duden und lerne neue Begriffe und Definitionen. Solange, bis ich irgendwann meine Theorien formulieren kann.

Bis vor einem Jahr habe ich Informatik und Philosophie studiert. Ich hatte Schulden, die ich nicht begleichen konnte und bin ich aus meiner Wohnung geflogen. Zu Beginn bin ich bei Freunden untergekommen, aber irgendwann hatte ich keine Lust mehr, ihnen ständig zur Last zu fallen. So habe ich mich entschieden, auf der Straße zu leben.

Für den Moment will ich erstmal nicht mehr ins normale Leben zurück. Man hat ja immer die Wahl, ob man sesshaft oder Nomade sein will. Und ich will die Welt sehen. Irgendwann, wenn ich 60 bin, brauche ich das nicht mehr machen, warum also nicht jetzt?

Jeder Mensch braucht einen Wohlfühlort. Mein Wohlfühlort ist mein Kopf. Man kann sich so herrlich schön zurückziehen darin. Und überall mit hinnehmen kann man ihn auch.«
Wilfried »Verlust ist mein Lebenselixir geworden. Gestern hat man mir mein Handy geklaut, beim Schlafen aus der Hand heraus. Dafür hab ich heute einen Tennisball gefunden. Was war ich froh, was war ich glücklich! Wenn man nichts mehr hat, dann kann so ein Tennisball Gold wert sein. Was man damit alles machen kann! Und vor allem: was man darin alles sehen kann. Das Gesicht von Ronald Reagan zum Beispiel, den äußersten Stern des Sonnensystems, die Krallen eines Habichts, das Zepter Ludwigs des XVI … Das alles fällt einem erst auf, wenn man ewig keinen Tennisball mehr in der Hand gehabt hat.

Früher, zu Ostzeiten, war ich Bildhauer und habe aus meinen Holzklötzen all die Dinge geschnitzt, die ich darin gesehen habe. Dieses Leben habe ich verloren, trotzdem versuche ich, die positiven Seiten zu sehen. Ich bin einigermaßen gesund, ich habe gute Leute um mich herum und erfreue mich an den wenigen Dingen, die mir der Alltag so anspült. Auch wenn sie am nächsten Tag oft wieder weg sind. Wenn du in der Scheiße sitzt, musst du die kurzen Momente des Glücks auskosten so gut es geht.

Jaja, der eine sitzt in seinem Reichtum am Wannsee, der andere sitzt mit einem Tennisball in Lichtenberg am U-Bahnhof. Heißt aber nicht, dass der am Wannsee mehr Freude empfinden kann.«
Jensen »Ich gehe arbeiten wie jeder andere auch. Schnorren halt. Ist mein Traumberuf! Seit 28 Jahren mache ich das nun und ich könnte mir nichts Besseres vorstellen.

Ich hatte ein Haus, eine Frau, einen Job. Aber als nach der Wende mein Malermeister-Abschluss nicht mehr das Gleiche wert war und ich nochmal von vorne hätte anfangen müssen, da hatte ich die Schnauze voll. Keinen Bock mehr auf den Staat, keinen Bock mehr auf die Gesellschaft. Also bin ich raus aus dem System. Auch wenn es anfangs schwer war auf der Straße – rückblickend war es die beste Entscheidung meines Lebens.

Auf der Tasche liege ich damit auch keinem. Hartz IV habe ich nicht beantragt, wegen der ganzen Auflagen. Da musst du dich ständig beim Amt melden und wenn du das nicht machst, kriegst du Strafen. Das ist nichts für mich. Ich will frei sein! Und mein Leben genießen. Ich schlafe solange ich will, wache morgens auf und mache wonach mir ist. Wenn ich wegfahren will, setze ich mich in den Bus und fahre nach Paris, nach Barcelona, nach Hamburg, nach Düsseldorf … ich war schon überall und in jeder großen Stadt kenne ich Leute.

Eigentlich bin ich Berliner, aber lieber sage ich: ich bin Erdenbürger. Und wenn du freundlich bist, kommst du ganz schön weit auf dieser Erde. Wie man in den Wald reinruft, so schallt es heraus. Darum schenke ich den Leuten mein Lächeln. Das ist doch das Schönste, was ein Mensch zu verschenken hat. Wenn mehr Leute lächeln würden, dann wäre doch die Welt nicht so schlecht wie sie gerade ist.«
Andi »Immer nett sein und grinsen! Dann hast du die besten Chancen, dass die Leute dir was geben. Manchmal hab ich aber gar keinen Bock zu grinsen. Muss ich dann aber trotzdem machen. Und irgendwann hab ich das Gefühl, als hätte ich einen Knüppel im Kiefer und der ganze Mund tut mir weh am am Abend … Ich mache das auch gar nicht so gern, das mit dem Zeitungen verkaufen und Schnorren. Ist mir oft einfach unangenehm, die Leute anzusprechen.

Ich denke hier viel über das Leben nach. Und wie alles so weit kommen konnte. Es gibt Leute, die mögen das Leben auf der Platte. Aber da liegst du im U-Bahnhof, in der Kälte, in deinem Durcheinander und deiner Pisse. Du lässt sich beklauen, hörst die ganze Nacht Geschrei, säufst deine drei Flaschen Schnaps am Tag und stinkst so sehr, dass du dich eigentlich gar nicht mehr in die Öffentlichkeit traust. Wo ist denn das schön?

Aber ich hätte es ja besser haben können. Ich war mal vier Jahre lang trocken! Ich war auf Entzug in einem Heim, hatte ein Zimmer mit Möbeln und allem Drum und Dran. Irgendwann gab es dann mal wieder ein klitzekleines Feierabendbier, wie es jeder halt so macht – und vorbei war’s. Ich mache mir viele Vorwürfe deswegen.

Jaja, der Teufel aus der Flasche … Das ist doch ein echtes Problem hier in der Bundesrepublik Deutschland. Dass du so günstig Alkohol bekommst! Du gehst in den Supermarkt, zahlst 5 Euro für eine Flasche Schnaps und 50 Cent für ein Bier. Da ist doch klar, dass man zum Alkoholiker wird.

Ich glaube, ich möchte das mal wieder machen. So einen Entzug und Therapie. Vielleicht sollte ich ja einfach nochmal anrufen, in dem Heim. Ich kam ja immer ganz gut aus mit den Leuten dort. Aber ob ich mich das traue? Ist mir schon ein bisschen unangenehm, dort anzurufen und zu sagen, was aus mir geworden ist. Aber jeder sollte doch eine zweite Chance verdienen. Macht doch jeder mal einen Fehler, oder?«
André Streetworker

»Unser Job im Kältebahnhof ist in erster Linie, dass hier keiner erfriert. Daneben versuche ich, wo es geht die Leute in ihren persönlichen Situationen zu unterstützen. Einigen kann man helfen, andere sind einfach nur froh, wenn man sie als Mensch behandelt.

Ich war selber mal obdachlos. Ich habe auf Gran Canaria gelebt und 500 € am Tag verdient. Als mich meine Frau verlassen hat, bin ich nicht mehr klar gekommen, habe all mein Geld versoffen, bin zurück nach Deutschland gekommen und im Sozialsystem gestrandet. Ich war dreimal klinisch tot, lag im Koma, saß im Rollstuhl, bin fast erfroren. Irgendwann habe ich mich zu einer Therapie aufgerappelt und mich wieder rausgekämpft. Seit eineinhalb Jahren bin ich zurück im Leben, habe eine eigene Wohnung und helfe seitdem Obdachlosen.

Die meisten Ursachen für Obdachlosigkeit sind emotionaler Natur. Der Verlust des Partners, so wie bei mir, ist der häufigste Grund. Ich kenne aber auch jemanden, der obdachlos geworden ist, weil sein Hund gestorben ist. Er stand dem Tier so nahe, dass er seinen Tod einfach nicht verkraftet hat. Bei anderen wiederum hakt es an Kleinigkeiten. Es gibt Leute, die landen auf der Straße, weil sie Behördenbriefe nicht verstehen. Sie haben keine Ahnung wie man Formulare ausfüllt, trauen sich nicht, es zuzugeben und sich Hilfe zu holen und schon nimmt die Misere seinen Lauf.

Einige Obdachlose gibt es, die aus voller Überzeugung draußen leben. Aber das sind die wenigsten. Viele machen eben aus der Not eine Tugend und sagen, dass sie gerne auf der Straße und in sogenannter Freiheit sind. Im Sommer kann Obdachlosigkeit schon auch mal schön sein, aber gerade im Winter ist diese Freiheit doch eine sehr eingeschränkte. In Wirklichkeit wünschen sich fast alle eine eigene Wohnung.

Ich möchte mit meiner Arbeit dazu beitragen, das Bild zu ändern, was die Leute von Obdachlosen haben. Viele Leute urteilen sehr schnell und sagen: Der ist doch selber Schuld, der hat doch das Saufen angefangen! Aber man sollte sich die Frage stellen: Warum hat er angefangen zu saufen? Natürlich ist ein großer Teil eigenes Verschulden, aber zur Obdachlosigkeit kann es nur führen, wenn die Gesamtlage prekär und das Umfeld dafür ausgelegt ist.

Hier im Bahnhof haben wir eklatante Schwierigkeiten mit den Passanten. Klar passiert es, dass die Obdachlosen auch untereinander mal aneinander geraten. Aber größtenteils sind sie friedlich. Die meiste Gewalt geht von anderen aus – von Rechten, die die Punks anpöbeln, von Alkoholisierten oder unter Drogen Stehenden, die sich über die Obdachlosen aufregen, von Hochnäsigen und Touristen, die sich über sie lustig machen.

Die meisten Menschen die hier durchgehen, sehen sich als etwas Besseres. Nur weil sie eine Wohnung oder teure Klamotten haben. Und dann schnorr mal so jemanden um 10 Cent an. Der glaubt, das Recht zu haben, mit deinem Leben zu machen, was er will.

Wir sollten Obdachlose als das ansehen, was sie sind: als ganz normale Menschen. Als Menschen, denen aus irgendwelchen Gründen das Leben entglitten ist. Die alle mal kleine Knirpse waren und ihren ersten Schultag hatten, die Väter, Mütter oder Ehegatten sind. Und die emotional völlig gleichwertig sind wie Du und ich.

Und auch unser Sozialsystem gilt es zu überdenken. Bislang haben wir ein Säulensystem: zu Beginn steht die Obdachlosigkeit, dann die Betreuten Übergangshäuser mit Sozialarbeit und erst wenn einem die Wohnfähigkeit bescheinigt wird, besteht die Chance auf eine eigene Bleibe. Diese Bescheinigung zu erlangen, ist allerdings eine riesige Hürde. Als Bewohner eines Betreuten Wohnheims ist man massivem Druck ausgesetzt. Macht man nur einen einzigen Fehler, wird rückfällig oder verpasst einen Therapietermin, wird man wieder vor die Tür gesetzt und verliert auf einen Schlag sein komplettes soziales Umfeld. Von einem normalen Mensch wird 100 % verlangt, wenn er 70-80 % leistet, ist jeder zufrieden. Von einem von Obdachlosen aber werden 150 % verlangt.

Housing First ist da ein besserer Ansatz. Die Idee ist, dass jeder Obdachlose ohne Wenn und Aber eine eigene Wohnung bekommt. Es gibt nur zwei Vorschriften: man muss die Hausregeln einhalten und einmal pro Woche einen Sozialarbeiterbesuch zulassen. Eine eigene Wohnung und ein geregeltes Umfeld sind existenziell wichtig für einen Obdachlosen. Ein eigener Rückzugsort gibt Selbstvertrauen, man fühlt sich wieder zur Gesellschaft gehörig und hat Zeit und Kraft, sich auf seine Probleme zu konzentrieren. Dieses Konzept funktioniert unter anderem schon sehr erfolgreich in Mexiko, Spanien, Finnland, Dänemark und einigen Städten der USA. Auch unsere Politik beschäftigt sich damit. Nur gibt es momentan noch nicht genügend freie Wohnungen und es fehlt an professionellen Helfern.

Aber ich werde mich weiter für diese Idee einsetzen. Mein Ziel ist es, alle Obdachlosen von der Straße zu holen. Und ich denke, das ist möglich.«
Ronny »Was die Leute für Vorurteile haben! Ich würde gar nicht aussehen wie jemand, der obdachlos ist, hat letztens eine Frau zu mir gesagt. Aber wie genau sieht denn jemand aus, der obdachlos ist? Es gibt doch überall Leute, die sich scheiße anziehen und solche, die sich rausputzen. Leute, die Arschlöcher sind, und freundliche Menschen. Jeder Mensch ist einzigartig! Bei den Obdachlosen wie bei den Normalos.

Ich war 20 Jahre bei der Bundeswehr. Ich war im Krieg! Ein Jahr im Kosovo, drei Jahre in Afghanistan. Gegen die Terroristen haben wir gekämpft! Denn bevor die uns abknallen, knallen wir die doch lieber ab, oder nicht?! Eines Tages haben wir eine Bombe kassiert. Drei Kameraden waren sofort tot, einige andere schwer verletzt. Bei mir war ein Finger ab, ein Splitter im Bein, die Karriere war vorbei. Danach habe ich noch ein bisschen auf Intellektuellen gemacht und in Hannover an der Bundeswehruni unterrichtet, das war aber nicht mein Ding.

Dann ist meine Frau gestorben, nach 24 Jahren Ehe. Und ich habe mir gedacht, was mach ich noch hier? In der leeren Wohnung, ohne Olle, ohne Kameraden … Da habe ich entschieden: Auszeit! Time Off! Raus hier, ab nach Berlin.

Den Sommer über hatte ich ein Zelt am Wannsee, jetzt im Winter bin ich hier. Es war meine freie Entscheidung dieses Leben zu leben. Ich könnte genauso gut in ein Hostel gehen, aber das will ich nicht! Weißt du, je weiter man in der Gesellschaft nach unten geht, desto mehr halten die Menschen zusammen. Und das ist das, was mir gefällt.«
Gabriel »Hier in der Notunterkunft ist es ein wenig so wie in dem Film Das Experiment. Verschiedenste Menschen werden einfach aufeinander losgelassen und es wird geschaut, was passiert – Alkoholiker, Drogensüchtige, Menschen mit schweren psychischen Problemen … Viele bräuchten individuelle Betreuung und es müssten Psychologen da sein, die sich um die Leute kümmern, die eigentlich in eine Klinik gehören. Aber in diesem Zustand ist das alles nicht sehr angenehm. Besonders für die Menschen, die noch einigermaßen normal ticken.

Ich hatte ein Start-Up für Kryptowährung. Das lief sehr gut, bis es diverse Probleme gab und mein Konto eingefroren wurde. Auf einmal fehlten mir über 60.000 Euro und die Kosten, um rechtliche Schritte einzuleiten, konnte ich nicht stemmen. Zwei weitere Geschäftsideen mit Freunden gingen ebenfalls schief, zur selben Zeit ist meine Beziehung in die Brüche gegangen und ich habe den Kontakt zu meiner Tochter verloren. Von da an ist alles den Bach runter gegangen und ich habe mich ein Stück weit aufgegeben.

Ich hatte die Wahl zwischen der Straße in Bayern, wo ich zu dem Zeitpunkt gelebt habe, und der Straße in Berlin. Ich habe mich für Berlin entschieden, weil es hier mehr Hilfsmöglichkeiten für mich gibt. Aber es ist trotzdem ganz schön gefährlich und anstrengend hier. Und die sozialen Organisationen unterstützen einen auch nicht in dem Maße wie ich mir das erhofft habe.

Seit Januar habe ich begonnen, über mein Leben als Obdachloser auf Instagram zu bloggen. Es gibt einfach viel zu wenig Aufmerksamkeit zu diesem Thema. Ich möchte, dass die Leute sehen wie schwierig es ist, als Obdachloser mit Hund auf der Straße zu leben und welche Steine einem tagtäglich in den Weg gelegt werden. Ich möchte die Dinge, die schlecht laufen, ansprechen und einen Diskurs öffnen. Seit ich das mache, bekomme ich viele positive Rückmeldungen, unter anderem von Politikern und Journalisten. 

Wenn es mir besser geht, will ich natürlich wieder zurück in ein geregeltes Leben. Aber nicht mehr in mein altes, nicht mehr zurück in die Start-Up-Szene. Ich würde lieber etwas machen, mit dem ich Leuten, die auf der Straße leben, helfen kann. Etwas, wo ich meine eigenen Erfahrungen einbringen und Dinge verändern kann.

Erstmal brauche ich aber einfach ein festes Dach über den Kopf. Egal wo. Bis das passiert, muss ich eben noch dieses Leben leben. Das ist schwer, aber ich lerne dabei auch viele Dinge für mich. Dinge, die ich in den vorigen Jobs nicht gelernt habe. Zufrieden zu sein mit den wenigen Sachen, die ich habe, zum Beispiel. Sich nicht so viel Gedanken um die Meinung anderer machen und nicht immer nach dem nächsten großen Etwas suchen.«

Gabriels Instagram: @berlin.war
Sašo »Ich war Kraftfahrer und bin durch ganz Europa gefahren. 2014 bin ich aus Slowenien nach Berlin gekommen, um bei meiner Halbschwester zu leben. Vor zweieinhalb Jahren hatte ich dann einen Schlaganfall. Drei Monate war ich im Krankenhaus und konnte anfangs nur noch meine Augen bewegen. Seitdem sitze ich im Rollstuhl.

Letztes Jahr hat meine Halbschwester gesagt, dass ich eine zu große Belastung für sie sei. Obwohl sie sich gar nicht wirklich um mich gekümmert hat. Duschen, anziehen, waschen, kochen – alles habe ich selber gemacht. Sie war einfach nur faul. Da habe ich zu Chilly gesagt, überall ist das Leben besser als bei ihr. Seitdem leben wir auf der Straße. Aber im Sommer, wenn ich fünf Jahre in Deutschland bin, bekomme ich endlich Sozialleistungen und hoffentlich auch eine eigene Wohnung. In meine Heimat ich will nicht mehr zurück. Dort es gibt keine U-Bahnen, keine Aufzüge, keine Sozialhilfe. Keine Unterstützung für Leute wie mich.

Mein Hund Chilly ist mein bester Freund. Es gibt so viele abgestürzte und seltsame Leute hier draußen. Man findet kaum jemanden, auf den man wirklich zählen kann. Und ganz generell gibt es nicht viele, die ich an mein Herz lasse. Vielleicht habe ich auch deswegen keine Frau gefunden.

Das Leben auf der Straße ist leider etwas langweilig für uns. Aber wir müssen es uns so schön machen wie es geht. Andere geben ihr weniges Geld für Wodka aus, wir für gutes Essen. Und jeden Morgen, wenn die anderen rausgehen und sich Bier oder Schnaps kaufen, gehen wir in ein Café und trinken Cappuccino. Aber nicht aus einem Pappbecher, sondern … aus einer echten Tasse!«
Jana Sozialarbeiterin

»Jeder hat das Recht auf der Straße zu leben. Und jeder hat das Recht auf der Straße zu sterben. Es gibt nichts Menschenunwürdiges daran, wenn jemand anders leben will, als die Gesellschaft es vorgibt.

Einschreiten sollten wir allerdings, wenn ein Mensch körperlich oder psychisch so sehr eingeschränkt ist, dass er hilflos ist und sich selbst oder Andere gefährdet. Quasi wenn jemand vergessen hat, wie man um Hilfe bittet. Dann liegt es an uns, uns einzuschalten und einen Koffer an Hilfsmöglichkeiten mitzubringen.

Das Hilfesystem in Berlin ist gut, jedoch teilweise schwer zu erreichen. Ich arbeite unter anderem mit Nichtwartezimmertauglichen. Das sind Menschen, die es aus unterschiedlichen Gründen einfach nicht aushalten, drei Stunden in einer Behörde zu sitzen. Menschen, die sich eine Wartenummer ziehen und diese nach einer Minute schon verloren haben. Oder auf dem Weg zum Amt dreimal die Orientierung verlieren und am Ende vergessen, wo sie eigentlich hin wollten. Aus diesem Grund gibt es bei uns in der Notunterkunft Sozialberatung am Abend, ohne Voranmeldung, Wartezimmer oder Nummer. Ich bin der Meinung, wenn es Menschen trotz Anstrengungen jahrelang nicht schaffen, das System zu erreichen, dann sollten wir anfangen, das System zu ihnen zu bringen.

Wenn Menschen ernsthaft einen Weg aus der Obdachlosigkeit suchen, helfe ich. Ich arbeite aber auch mit Leuten, die Beklemmungen bekommen, wenn hinter ihnen eine Tür zugemacht wird. Sie haben sich so sehr an ihre Situation gewöhnt, dass sie einfach nicht mehr runter von der Straße wollen. Wenn jemand so fühlt, sollte man das akzeptieren oder andere Wohnformen erfinden, in denen sich diese Menschen wohlfühlen. Als Sozialarbeiterin muss man oft kreativ sein.

Oftmals hilft es aber auch schon, den Menschen einfach mal zuzuhören. Mir ist es wichtig, ihnen zu zeigen, dass sie nicht egal sind und dass sich jemand für sie interessiert. Obdachlose sind ja sonst extrem ausgegrenzt in unserer Gesellschaft. Wenn man sich aber länger mit ihnen beschäftigt, merkt man, dass ihr Zusammenleben genauso funktioniert, wie in allen anderen Gesellschaftsschichten auch. Auch hier gibt es Hierarchien – es gibt Leute, die sich stärker fühlen und solche, die unterdrückt werden. Die Leute beklauen und beleidigen sich oder betrügen sich gegenseitig mit ihren Partnern. Es ist nichts anders als in der Elite.

Täglich all die unterschiedlichen Schicksale zu erleben, erdet einfach. Jeder hat eben seine ganz eigene Geschichte, wie er oder sie auf der Straße gelandet ist. Viele legen sich diese Geschichte aber auch zurecht und erfinden ihre eigene Wahrheit. Einiges stimmt, einiges wird dazu gedichtet, anderes unter den Tisch fallen gelassen. Und dann wird das Ganze so lange wiederholt, bis man es selbst glaubt. Das muss man im Kopf behalten.

Tatsächlich sind es oft harte Schicksalsschläge oder psychische Erkrankungen, die in die Obdachlosigkeit führen. Dennoch bin ich der Meinung, dass Obdachlosigkeit auch vorbereitet werden muss. Natürlich gibt es Fälle von unrechtmäßigem Wohnraumverlust und anderen Ungerechtigkeiten. Aber meistens wird man nicht von heute auf morgen grundlos obdachlos. Überlege mal, durch wie viele Stufen Deines Umfeldes Du fallen müsstest, bis Dir das passieren würde. Die meisten Obdachlosen haben Verhaltensmuster, mit denen sie in ihrem Umfeld angeeckt und weswegen sie letztlich aus dem System geflogen sind. Diese Muster setzen sich auf der Straße weiter fort und die Leute fallen immer wieder hinein. Das zu durchbrechen, ist schwer.

Unser primärer Job in der Notunterkunft im Winter ist die niedrigschwellige Versorgung obdachloser Menschen und die Verhinderung ihres Kältetodes. Jeden Abend haben wir ein neu zusammengewürfeltes Team von Ehren- und Hauptamtlichen, die mit viel Engagement und Herzblut dabei sind. Dass dabei nicht immer alles funktioniert, ist klar. Und dass es Reibereien gibt, wenn so viele Menschen mit unterschiedlichsten Hintergründen, Problemen und Geschichten aufeinandertreffen, auch. Viele unserer Gäste bräuchten eindringlichere Unterstützung, quasi eine Eins-zu-Eins-Betreuung, aber dafür fehlt einfach die Kapazität an qualifizierten Helfern.

Meine Schicht in der Notübernachtung geht meistens bis Mitternacht. Danach arbeite ich noch ein paar Stunden im Kältebus und versuche Leute, die auf der Straße übernachten, dazu zu animieren, mit uns in eine der Notunterkünfte zu fahren. Viele wollen das aber nicht. Einerseits, weil sie dort so früh aufstehen müssen und untereinander so viel geklaut wird. Andererseits, und das ist der Hauptgrund, weil dort absolutes Alkohol- und Drogenverbot herrscht. Meiner Meinung nach müsste es Unterkünfte geben, in denen die Gäste konsumieren dürfen.

Diesen Ansatz mit der gängigen Politik zu vereinbaren, ist sicherlich schwer. Darum gilt es, die Leute weiter für das Thema Obdachlosigkeit zu sensibilisieren. Und da gibt es noch viel zu tun.«
Stefan »Eine Arbeit haben und trotzdem obdachlos sein? Sowas gibt es nicht, habe ich gedacht. Bis es mir selbst passiert ist. Ich arbeite als Reinigungskraft in einem Kaufhaus und habe die letzten Jahre in einer WG gelebt. Im Sommer hat der Vermieter Eigenbedarf angemeldet. Und nachdem ich eine Zeitlang vergeblich nach einem neuen WG-Zimmer gesucht hab – es suchen ja alle entweder einen Studenten oder ein hübsches Mädchen, aber ganz bestimmt keinen 52-jährigen Mann! –, da bin ich auf die Straße gezogen.

Zwei Wochen hat es gedauert, bis ich mit der Situation zurecht gekommen bin. Wenn es warm ist, ist es ja auch nicht so schwer. Geschlafen habe ich nachts kaum, immer nur ein, zwei Stunden. Oft war es auch nur Sekundenschlaf, weil ich ja immer aufpassen musste, dass man mir meine Sachen nicht klaut. Aber das genügt. Der Mensch ist so ein Gewohnheitstier, er gewöhnt sich einfach an alles.

Meine größte Angst war, dass ich auf der Straße verblöde. Im Sommer bin ich nach der Arbeit immer in einen Park gegangen und hab mich ein bisschen langgelegt. Wenn es dunkel wurde, habe ich mich in ein Internet-Café gesetzt und habe die ganze Nacht über Dokumentationen oder Rockkonzerte geschaut. Solange bis ich morgens wieder zur Arbeit musste. Den gesamten Eichmann-Prozess von 1961 in Jerusalem habe ich zum Beispiel gesehen. Alle 140 Prozesstage! Um mich geistig zu fordern und um den Gedanken zu entkommen, die man sich täglich so macht.

Seit Dezember komme ich meist in dieses Zirkuszelt. Das Personal ist sehr freundlich und ich bin froh, dass ich einen warmen und trockenen Platz zum Schlafen habe. Aber es ist auch immer viel Trubel hier. All mein Hab und Gut lasse ich nachts in einem Spind auf der Arbeit. Von meiner Situation weiß nur ein Kollege von mir, sonst habe ich mich keinem anvertraut. Bin eben auch ein Einzelgänger.«
Clochard »I’m a world traveller. And a mind-traveller. Just name me Barbone. My real name is so past, it’s even scary. I don’t know anymore if it is really me.

Before Berlin, I was walking through France, Spain, Portugal, Marocco, Mauretania, Senegal, through the Sahara. Writing diaries, making a little money from the collages I created on my way. Everywhere I was, people asked me where I come from. Especially the cops. I’m so annoyed of this question. I got no »home« country. Is a country my home just because I was born in it? I came from Mama’s pussy, that’s all I know. Why do people just don’t understand this? Why do people harm me because of that, why do people put me into prison? I try to enjoy my life, but other humans make it difficult for me.

Where I will go next? The sun. Or the moon. Other elements will show it to me.«
Yari »Ich will nicht immer laufen. Vor 16 Jahren bin ich von Tunesien nach Europa gekommen. Ich bin abgehauen von meinen Onkel, der mich misshandelt hat. Ich war in der Schweiz, in Frankreich, Italien, Belgien, Luxemburg und Österreich. Ich spreche sechs Sprachen und habe als Koch, Übersetzer, Friseur und auf Baustellen gearbeitet. Aber überall, wo ich war, wurde ich wieder weggeschickt. Jetzt bin ich in Berlin. Jeden Tag laufe ich umher, lese, lerne, verbessere mein Deutsch, informiere mich, recherchiere im Internet, frage Leute … aber nichts passiert. Kein Aufenthalt, keine Arbeit, keine Wohnung.

Wenn dich die Leute mit deinen ganze Sachen auf der Straße sehen, mit deinem Rucksack und deinen Taschen, dann denken sie sofort, dass du ein schlechter Mensch bist. Sie denken, du seist ein Junkie. Aber ich nehme keine Drogen, ich trinke nicht mal Alkohol. Ich möchte, dass mein Kopf klar ist. Ich möchte so bleiben wie ich gelernt habe, ein guter Mensch zu sein.

Ich habe viele Träume und Ziele gehabt. Aber weißt du, wenn du immer nur läufst und läufst und alles gibst, aber jeder sagt dir immer nur nein, nein, nein … dann ist es irgendwann schwer. Ich bin sehr positiv, ich lache sehr viel. Und wenn ich lache, dann lache ich richtig. Ich lache mit dem Herzen. Aber irgendwann verlierst du deine Hoffnung, deine Kraft, deine Energie. Du verlierst dein Lachen, du verlierst deine Träume. Und dann siehst du aus wie ich jetzt. Wie ein Opa.

Klar, es gibt auch schöne Momente. Aber die schönen Momente machen mich traurig. Weil ich weiß, dass sie nur von kurzer Dauer sind und ich gleich wieder weg muss … Ich will nicht immer laufen.«
Maggi »Die Außerirdischen haben meine Kinder geklont. Die echten haben sie in der Badewanne zersägt. Die schwirren jetzt umher, als Teufelchen und Engelchen. Und die Geklonten laufen draußen herum. Ich habe mich sogar mit denen unterhalten! Die sehen haargenau gleich aus, nur etwas schüchterner sind sie. Ich habe das bei der Polizei gemeldet, aber die haben gemeint, ich sei psychisch krank und haben mich in die Klapse geschickt. Die stecken natürlich unter einer Decke, die Polizei und die Außerirdischen.

Bockwurstgesicht! Du Bockwurstgesicht!, haben sie zu mir gesagt, die Polizisten. Aber warum? Ich sehe doch cool aus. Wie Arnold Schwarzenegger sehe ich aus, sagt mein Mann. Wie Arnold Schwarzenegger, haargenau!

Der kommt gleich, mein Mann. Alter, der ist Filmproduzent und macht Action-Filme, glaub ich. Der hat mich gesehen und bringt mich ganz groß raus. Weil ich so geil schauspielern kann. Mein Mann, der hat schon mit richtigen Stars zusammengearbeitet. Mit Til Schweiger und Tony Montana, zum Beispiel. Der war letztens in der Großbeerenstraße, der Tony Montana, und hat da rumgeballert mit seinem Maschinengewehr. Den würde ich gern mal richtig kennenlernen, obwohl der auch Außerirdischer ist. Den würde ich gern mal als coolen Kontakt in meinem Handy abspeichern. So wie Dich. Bist Du nicht auch Filmproduzent? Ey, Du siehst aus, als wärst Du ein Filmproduzent!«
Julien »Heroin ist das Schönste, was es gibt. Und gleichzeitig das Schlimmste. Man hat sie ja immer, diese Träume im Leben, diese Wünsche und Ziele. Heroin ist so mächtig, dass es dir alles erfüllt. Auf einen Schlag. Und somit beraubt es dich gleichzeitig all dieser Träume. Denn was soll danach noch kommen?

Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern wie ich ohne Heroin war. Mich gibt es eigentlich gar nicht ohne. Ich bin süchtig seit ich 15 bin. Ich bin bei meinem Vater aufgewachsen, der all sein Geld für Kokain und Alkohol ausgegeben hat, und so bin ich auch sehr schnell mit Drogen in Berührung gekommen. Heroin hat meine Pubertät geprägt. In der Zeit, in der sich meine Persönlichkeit entwickelt hat und ich zum Mann geworden bin, war es immer an meiner Seite und ist mit mir verwachsen.

Durch die Sucht verliert man jegliche Kontrolle und Sozialkompatibilität. Und sein Selbstbewusstsein. Man kriegt keinen geregelten Tagesablauf mehr hin und die einfachsten Dinge, die bei allen anderen so leicht aussehen, fallen mir so unendlich schwer.

Wie ich mein Geld für das ganze Heroin zusammenbekomme? Das fragt mich jeder. Ich nehme dann und wann ein eingeschweißtes iPad aus dem Laden und verticke das. Ich klaue Fahrräder oder einzelne Teile und baue sie neu zusammen. Solche Sachen eben. Du glaubst nicht, was für eine Energie und Kreativität man entwickelt, wenn der Körper Drogen haben will.

Aber ein paar Träume habe ich doch noch. Eine Substitution machen, zum Beispiel. Damit ich nicht den ganzen Tag damit beschäftigt bin, dem Zeug hinterher zu rennen, das mich eigentlich kaputt macht. Irgendwann würde ich dann gerne Chemielaborant werden. Und eine eigene Wohnung haben, einfach eine eigene Wohnung …«
Fritz »Um die Flüchtlinge kümmert sich die Regierung. Für die ist Geld da, für die werden Container aufgestellt, in denen sie unterkommen können. Warum macht man das nicht für uns?

Ich war Eisenflechter und habe im Stahlwerk gearbeitet. Irgendwann hat der Betriebsarzt gesagt, meine Wirbelsäule könne man nicht mal mehr als Garderobenständer benutzen. Ich habe meine Arbeit verloren und bin auf der Straße gelandet. Und jetzt stecke ich fest: Hast du keine Wohnung, kriegst du keine Arbeit. Hast du keine Arbeit, kriegst du keine Wohnung. Das ist ein Teufelskreis.

Mit meinen alten Knochen hier auf der Platte zu pennen, das ist kein Spaß, das kann ich dir sagen. Der Mensch braucht einfach sein eigenes Zuhause. Wo er die Tür zumachen kann, wo sich keiner mit Krätze in sein Bett legt, wo er seine Ruhe hat.

Mit so einem bisschen Ruhe kann man sich ja ganz anderen Dingen widmen. Wenn ich wieder eine Wohnung habe, besorge ich mir erstmal so eine schöne alte Nähmaschine und fange das Schneidern an. Und Pferdebilder würde ich gern wieder malen, das habe ich früher in meiner Freizeit gemacht. Aber hier im Tunnel geht sowas nicht. Bei dem ganzen Radau und der Kälte kann man ja kaum weiter denken als ein Schwein scheißt.«

Schatten der
Gesellschaft

Die Obdachlosen von Berlin.

Eine gezeichnete Reportage
von Sebastian Lörscher

Sebastian Lörscher 1 2 3 4




In Berlin leben zwischen 4.000 und 10.000 Menschen auf der Straße.


Manche von ihnen sehe ich jeden Tag, manchen werfe ich Geld ein, wenn ich aus dem Supermarkt komme, manche sind eine feste Institution auf meinem Weg ins Atelier. Doch wie oft bleibe ich stehen und suche ein Gespräch? Von Januar bis April bin ich regelmäßig mit Stift und Skizzenbuch an Orte gegangen, wo Obdachlose Schutz vor der Kälte des Winters gesucht haben. Ich wollte herausfinden, wer die Menschen sind, die hier leben und welche Geschichten sie zu erzählen haben.



Im
Kältebahnhof

klick mich

uwe

»Suchste ’nen Platz zum Pennen, Großer? Packste Dich mit zu uns!«, schmunzelt ein vergilbter Vollbart als ich zum ersten Mal mit meinem großen Rucksack in die gelb gekachelte Unterführung herabsteige und mich unsicher zwischen den grauen Pfeilern umherdrücke. Inmitten von Tütenbergen, Isomatten, Einkaufswagen und Schlafsäcken knutschen zwei Piercinggesichter, eine verwirrte Frau spielt barfuß mit ihren Schlappen Fußball und ich beobachte mit einer Mischung aus Unbehagen und Neugier wie eine Gestalt unter einer löchrigen Decke braunes Pulver auf einem Stück Alufolie erhitzt. Grelle Heavy Metal-Musik donnert aus einer Bluetooth-Box und vermengt sich mit dem eisigen Durchzug. Ich fingere in meinem Rucksack nach Skizzenbuch und Stiften, atme tief durch und gehe ein paar Schritte weiter den Gang entlang.

dennis

»Meins, meins, meins!!!« – Eine Wollmütze mit Duden auf dem Schoß und ein Kleinwüchsiger mit Ratte auf der Schulter streiten sich lachend um die letzten Stücke Dosenthunfisch. Sie imitieren die Möwen aus »Findet Nemo« und den Schwulen aus dem »Schuh des Manitu«, gemeinsam schwelgen wir in Erinnerungen an die Otto-Filme. Ihre Freundinnen im Lager nebenan verdrehen die Augen. Auf ihren Smart Phones läuft »Das Dschungelcamp« und »Hart, aber Fair«.

kerstin

»Ich liebe dieses Leben, ich hasse dieses Leben«, murmelt eine blasse Rotweintrinkerin immerzu vor sich hin, während sie ihren Schlafplatz fegt und mit Blumen dekoriert. Ich darf sie nur mit Sonnenbrille und Kapuze zeichnen, damit man ihre verweinten Augen nicht sieht, und die ungewaschenen Haare. Später setzt sich ihr Freund zu uns. Heute sei ein schöner Tag gewesen, erzählt er. Sie hätten ihren Pegel erreicht, viel zusammen gelacht und er sei kein einziges Mal aggressiv gegenüber ihr geworden. Von seinem Handy aus ruft sie ihre Tochter an. »Sie fragt mich immer, ob wir uns nicht schämen, hier im U-Bahnhof zu pennen«, schluchzt sie und umarmt mich als ich aufstehe.

»Das is’ besser als Kino«

jensen

Ein paar Kacheln weiter erklärt mir ein Blauhaariger mit »Hirntot«-Schriftzug auf seinem Unterarm wie man aus aus Löffel, Nadel und Kugelschreiber eine Tätowiermaschine bastelt. Sein zahnlückiger Lederjackenkumpel fordert mich heraus zu einer Partie Mau-Mau. »Wer verliert, bekommt die Nägel bunt lackiert!«, grinst er und verteilt die Karten. Mein Skizzenbuch dient mir als Sitzkissen, unter meinem frierenden Hintern vibriert die U-Bahn.

andi

Im 5-Minuten-Takt spült der Untergrund Menschen auf dem Weg in den Feierabend die Treppen empor. Eine Frau mit Sonnenstudiobräune steckt angewidert die Nase unter ihren Schal, ein Anzugträger mit rosa Krawatte senkt den Blick, zwei Jungs mit Fußballtaschen beschleunigen den Schritt. »Meine Lieben, ’ne winzige Spende?«, ruft ihnen ein alkoholisierter Magazinverkäufer hinterher. »Willste das nich’ auch mal probieren?«, fragt er mich. »Dann musste nich’ rumkritzeln für Dein Geld!«

fritz

wilfried

»Ach, das mit der Zeichnerei ist doch besser als die ganzen Leute, die hier durch unsere Lager latschen und einfach so Fotos von uns machen«, zuckt ein hustender Rotbackiger gleichgültig mit den Schultern, als ich ihn umständlich frage, ob es ihn stören würde, wenn ich ihn portraitiere. »Andere Leute jonglieren auf der Straße oder rappen irgendein wirres Zeug. Da wird man ja wohl noch zeichnen dürfen«, lächelt eine Stotternde mit geweiteten Ohrläppchen. »Deine Zeichnung beweist mir, dass ich ein Mensch bin, das macht mich froh«, sagt ein rauchender Schlapphut. Je öfter ich den Bahnhof besuche, desto normaler wird meine Zeichnerei für die Obdachlosen und ich verliere meine Anspannung mehr und mehr.

»Haste noch Zeit für’n Bild von unserer kleinen Familie?«, fragen mich eines Nachts zwei Punks namens Filmriss und Dragon. Es ist mittlerweile 1 Uhr, die Kälte hat sich durch all meine Schichten geschnitten und ich sehne mich nach nichts mehr als unter drei Decken in meinem beheizten Zimmer zu liegen. Ich setze mich zwischen die Hunde Bronko, Sheila und Odin und nehme einen Zug von der mir angebotenen Wasserpfeife. Ein Glatzkopf wankt vorbei und spuckt in unsere Richtung.

»Ich schlitz euch auf, wenn ihr schlaft!«, keift er. »Alerta! Alerta! Antifascista!«, brüllt es zurück. Fäuste klatschen, Zähne splittern, Flaschen zerbersten, Lippen bluten, die Hunde bellen. Polizisten und andere Obdachlose stürmen dazwischen, eine zeternde Frau bekommt einen Schreikrampf, Sicherheitskräfte drohen mit Räumung des Bahnhofs, eine Fransenjacke mit Gitarre gröhlt »Knocking on Heaven’s Door«.

andre

»Das is’ eine Schlafmeile, keine Partymeile!«, stöhnt ein Schlaftrunkener. »Das is’ die Straße«, seufzt ein Streetworker. »Das is’ besser als Kino«, amüsiert sich ein Kinnbart, verschränkt die Arme hinterm Kopf und lehnt sich zurück an die gelben Kacheln.

Im
Wärmezelt

»Verpetzte uns aber nich’, ne?!«, grinsen der Mann mit dem Silberblick und der mit dem schwarzen Scheidezahn und nehmen tiefe Schlücke aus Pilsator-Dosen, die sie unter ihren Jacken versteckt halten. Den kreisenden Joint lehne ich dankend ab. Mit angezogenen Schultern stehe ich dicht an dicht gedrängt zwischen Daunenjacken, Fellkragenparkas, Rucksäcken und Taschen, inmitten sich begrüßender Ghetto-Fäuste, Alkoholfahnen und den Gerüchen ungewaschener Körper. Zu meinen Füßen erbricht sich ein Mann mit Ohrenschützern. Alle sind fixiert auf die sich öffnende Tür. Als die Sicherheitskräfte die Schlafplatznummern ausgeben, gerät der Container vor der weißen Kuppel ins Wanken.




»Zeichne lieber
einen Ferrari oder BMW«

ronny

»Willkommen am Tisch der germanischen Fraktion«, sagt ein Pferdeschwanz mit Bundeswehrabzeichen, nachdem er mir einige Minuten lang eindringlich über die Schulter geblickt hat und ich so getan habe, als würde mich das nicht irritieren. Seine Kumpanen nicken. Sie erzählen, dass die Bundesrepublik nicht mehr das Goldene Land sei, das es früher mal war und werfen verächtliche Blicke in Richtung des Tisches der »Polaken«, die immer nur über Deutschland schimpfen würden.

gabriel

»Es gibt schon viel Rassismus und Feindseligkeit unter uns Obdachlosen. Von Seiten der Deutschen, genauso aber auch von Seiten der Osteuropäer«, erklärt ein unablässig handytippender Mittdreißiger am Nebentisch. »Aber wir, wir sind doch wie ’ne kleine Familie. Wir halten alle zusammen!«, wirft ein Zahnloser mit Schluckauf ein. »Bloß, dass man sich in einer Familie eigentlich nicht beklauen sollte …«, knurrt eine Tätowierte mit Sicherheitsnadel in der Nase und verengt die grauen Augen zu Schlitzen.

 


»Zeichne lieber
einen Ferrari oder BMW«

ronny

»Willkommen am Tisch der germanischen Fraktion«, sagt ein Pferdeschwanz mit Bundeswehrabzeichen, nachdem er mir einige Minuten lang eindringlich über die Schulter geblickt hat und ich so getan habe, als würde mich das nicht irritieren. Seine Kumpanen nicken. Sie erzählen, dass die Bundesrepublik nicht mehr das Goldene Land sei, das es früher mal war und werfen verächtliche Blicke in Richtung des Tisches der »Polaken«, die immer nur über Deutschland schimpfen würden.

»Willkommen am Tisch der germanischen Fraktion«, sagt ein Pferdeschwanz mit Bundeswehrabzeichen, nachdem er mir einige Minuten lang eindringlich über die Schulter geblickt hat und ich so getan habe, als würde mich das nicht irritieren. Seine Kumpanen nicken. Sie erzählen, dass die Bundesrepublik nicht mehr das Goldene Land sei, das es früher mal war und werfen verächtliche Blicke in Richtung des Tisches der »Polaken«, die immer nur über Deutschland schimpfen würden.

gabriel

»Es gibt schon viel Rassismus und Feindseligkeit unter uns Obdachlosen. Von Seiten der Deutschen, genauso aber auch von Seiten der Osteuropäer«, erklärt ein unablässig handytippender Mittdreißiger am Nebentisch. »Aber wir, wir sind doch wie ’ne kleine Familie. Wir halten alle zusammen!«, wirft ein Zahnloser mit Schluckauf ein. »Bloß, dass man sich in einer Familie eigentlich nicht beklauen sollte …«, knurrt eine Tätowierte mit Sicherheitsnadel in der Nase und verengt die grauen Augen zu Schlitzen.

»Es gibt schon viel Rassismus und Feindseligkeit unter uns Obdachlosen. Von Seiten der Deutschen, genauso aber auch von Seiten der Osteuropäer«, erklärt ein unablässig handytippender Mittdreißiger am Nebentisch. »Aber wir, wir sind doch wie ’ne kleine Familie. Wir halten alle zusammen!«, wirft ein Zahnloser mit Schluckauf ein. »Bloß, dass man sich in einer Familie eigentlich nicht beklauen sollte …«, knurrt eine Tätowierte mit Sicherheitsnadel in der Nase und verengt die grauen Augen zu Schlitzen.

sašo

»Ich mag Deutschland. Es ist alles nicht so barbarisch wie in meinem Land, wo jemand wie ich kaum Hilfe bekommt«, sagt ein ein slowenischer Hundebesitzer ein paar Tische weiter. Jedes seiner Worte bringt er nur mit großer Mühe über die Lippen. Seinen Rollstuhl solle ich nicht zeichnen, bittet er, »lieber einen Ferrari oder BMW«.

stefan

»Kann man mitmachen?«, nuschelt ein schüchterner Blondschopf, setzt sich zu uns und streicht ehrfürchtig über die Buntstifte in meiner Stiftemappe. »Ist ganz schön lange her …« Tief über das Blatt gebeugt werkelt er wortlos und mit akribischer Genauigkeit an einer einzelnen Zeichnung. Solange, bis die Lichter im Zelt gedimmt werden. Das fertige Bild steckt er mir unauffällig in mein Skizzenbuch.


»Ich bin mittendrin, zwischen all den Kranken und Verrückten«

jana

Auf einem Sofa in der Leseecke sitzt ein vor sich hin lächelnder Holländer und liest ein Drei ???-Buch. Daneben spielt ein Mann, der sich für Pavarotti hält, imaginäres Basketball mit einer jungen Sozialarbeiterin. »Bei manchen hier gibt es Hoffnung auf Besserung«, sagt sie. »Bei anderen ist das, hart gesagt, betreutes Sterben …«

yari

»… und ich bin mittendrin, zwischen all diesen Kranken und Verrückten«, klagt ein Hagerer mit brüchiger Stimme. Hatte er bislang apathisch in der Ecke gesessen und pausenlos mit seinem Bein gewippt, so redet er nun ohne Unterlass. Er fragt mich nach Arbeit, fragt mich nach einer Wohnung, fragt mich nach meiner Telefonnummer. Obwohl ich keine Idee habe wie ich ihm helfen könnte, gebe ich sie ihm. Ich will ihn nicht abweisen, gleichzeitig bin ich mir unsicher, wie viel Nähe man zulassen darf, wenn man hier arbeitet.

»Komm gut heim,
schau mal wieder vorbei«

maggi

Im Neonlicht des Rauchercontainers kommen sich ein türkisener »I love Berlin«-Pulli und eine Vokuhila in Cowboystiefeln näher. »So viele Herzchen kannst Du gar nicht zeichnen wie zwischen denen rumschwirren«, krächzt eine Verschnupfte mit grimmigem Blick, deren faltiges Gesicht sich für einen kurzen Moment zu einem strahlenden Lächeln ausbreitet. Während wir uns unterhalten, klatscht sie sich immer wieder an die Unterschenkel, um die umherfliegenden piekenden Teufelchen zu vertreiben und spuckt mehrmals aus, um das Gift loszuwerden, das sie ihr einflößen.

julien

»Da ist nichts, das ist alles nur in deinem Kopf«, beruhigt sie ein Junge mit pflasterübersäten Armen und streicht ihr besänftigend über den Rücken. »Sie hat bestimmt irgendwas Schlimmes erlebt«, sagt er, nachdem sie gegangen ist. »Aber sie ist echt ’ne Liebe.« Mit glasigen Halbmastaugen sitzt er schwankend vor dem Heizkörper, trinkt Fencheltee und zündet sich umständlich seine andauernd erlischende Zigarette an. Vor mir sitzt ein Mensch Anfang 20, der mir eloquent und höchst reflektiert seine traurige Lebensgeschichte erzählt und dabei immer wieder mitten im Satz einschläft. Wie sein Leben wohl verlaufen wäre, wenn er einfach nicht in die falschen Verhältnisse geboren worden wäre?, frage ich mich. Nachdem ich ihn das vierte Mal wieder wachgerüttelt habe, hat er ein Einsehen und geht mit einem »Komm gut heim … und schau mal wieder vorbei« ins Bett.

Einige Minuten verharre ich noch alleine im Container. Dann lasse ich mir vom Wachmann die Zelttür aufsperren und er winkt mich hinaus in die Nacht. Ein paar verirrte Schneeflocken wehen mir ins Gesicht und wie automatisch spanne ich meine Schultern wieder an. Ich ziehe den Reißverschluss meiner Jacke nach oben und schiebe die Mütze ins Gesicht. Dann stapfe ich los in Richtung nach Hause.







Frühling

Es ist Ende April. Die Luft riecht nach Flieder und blühenden Bäumen und es ist die erste Nacht des Jahres, in der ich meine dünne Sommerjacke trage. Die Erinnerungen an die wilden, rauen Winternächte hallen wie Schatten durch die nun menschenleere Unterführung, als ich zum ersten Mal nach Wochen wieder zum Bahnhof Lichtenberg zurückkehre. Ein kleiner Haufen Verbliebener lehnt nun an bunten Kacheln, unter freier Luft am Bahnhofseingang.

»Er nu’ wieder«, begrüßt mich Jensen und blickt kurz von seinem Erich Kästner-Buch auf. In zwei Wochen wird es so warm sein, dass er sein Zelt in einem Wald außerhalb Berlins aufschlagen kann oder genug Geld beisammen hat, um Freunde in Düsseldorf zu besuchen. Andi versucht seit einiger Zeit mit sichtlichem Erfolg einen Alkohol-Selbst-Entzug. War es ihm im Winter noch schwer gefallen, sich überhaupt von seinem Lager zu erheben, so schafft er es jetzt wieder, die ein oder andere Stunde täglich Pfandflaschen sammeln und Magazine verkaufen zu gehen. Fritz hat in ein paar Tagen einen OP-Termin für seinen Rücken, danach darf er für sechs Wochen in einem Wohnheim schlafen. Er freut sich auf ein ordentliches Bett, was danach wird, »weiß der Mann im Mond«. Alle anderen hat es in verschiedene Richtungen verstreut, wohin, wissen die wenigsten.

Die Streetworker stehen ausgelassen quatschend, rauchend, biertrinkend und mit Teewurst bestrichene Brote verteilend in einer Runde mit anderen ehemaligen Bewohnern des Kältebahnhofs. Ihr Vertrag mit der Kältehilfe ende in ein paar Tagen und da wolle man noch ein paar nette letzte Abende verbringen. »Schließlich haben wir ja so einiges gemeinsam erlebt, den ganzen langen Winter über!«, lachen sie und knuffen sich freundschaftlich in die Rippen.




Frühling

Es ist Ende April. Die Luft riecht nach Flieder und blühenden Bäumen und es ist die erste Nacht des Jahres, in der ich meine dünne Sommerjacke trage. Die Erinnerungen an die wilden, rauen Winternächte hallen wie Schatten durch die nun menschenleere Unterführung, als ich zum ersten Mal nach Wochen wieder zum Bahnhof Lichtenberg zurückkehre. Ein kleiner Haufen Verbliebener lehnt nun an bunten Kacheln, unter freier Luft am Bahnhofseingang.

»Er nu’ wieder«, begrüßt mich Jensen und blickt kurz von seinem Erich Kästner-Buch auf. In zwei Wochen wird es so warm sein, dass er sein Zelt in einem Wald außerhalb Berlins aufschlagen kann oder genug Geld beisammen hat, um Freunde in Düsseldorf zu besuchen. Andi versucht seit einiger Zeit mit sichtlichem Erfolg einen Alkohol-Selbst-Entzug. War es ihm im Winter noch schwer gefallen, sich überhaupt von seinem Lager zu erheben, so schafft er es jetzt wieder, die ein oder andere Stunde täglich Pfandflaschen sammeln und Magazine verkaufen zu gehen. Fritz hat in ein paar Tagen einen OP-Termin für seinen Rücken, danach darf er für sechs Wochen in einem Wohnheim schlafen. Er freut sich auf ein ordentliches Bett, was danach wird, »weiß der Mann im Mond«. Alle anderen hat es in verschiedene Richtungen verstreut, wohin, wissen die wenigsten.

Die Streetworker stehen ausgelassen quatschend, rauchend, biertrinkend und mit Teewurst bestrichene Brote verteilend in einer Runde mit anderen ehemaligen Bewohnern des Kältebahnhofs. Ihr Vertrag mit der Kältehilfe ende in ein paar Tagen und da wolle man noch ein paar nette letzte Abende verbringen. »Schließlich haben wir ja so einiges gemeinsam erlebt, den ganzen langen Winter über!«, lachen sie und knuffen sich freundschaftlich in die Rippen.



Vor dem weißen Kuppelzelt steigt grauer Rauch auf. »Komm ran da! Heut’ wird angegrillt!«, winkt man mich herbei. Unter einem Einkaufswagen wird Kohle geschürt, auf dem Drahtgitter brutzeln Würstchen. Bierdosen und Joints machen nun offen die Runde, zwei Männer vergleichen stolz ihre Bäuche, die dicker geworden sind, in den letzten Tagen. Die Sicherheitskräfte machen kopfschüttelnd Fotos, um 22 Uhr fordern sie die Meute auf, sich doch so langsam hinein zu bewegen.

Die Tische im Zelt sind nur noch spärlich belegt, in der Leseecke tanzen drei Jungs zu arabischer Musik, die Helfer stehen beschäftigungslos am Eingang, die Eintopf-Bottiche sind noch zur Hälfte gefüllt. Ich sehe nur wenige bekannte Gesichter aus der Winterzeit.

Maggi erzählt mir von bahnbrechenden neuen Erkenntnissen. Sie habe gemerkt, dass sie selbst eine Außerirdische sei und das Klonen beherrsche. Und morgen werde sie nach oben fahren und sich dort von Arnold Schwarzenegger zur Königin krönen lassen. Mit Stefan sitze ich lange am Tisch und blättere in einem karierten DIN A5-Heft, das voll ist mit skurrilen Figuren, Landschaften und Gebäuden. »Hab ich alles in den letzten Wochen gezeichnet«, schmunzelt er. »Hast mich irgendwie angefixt.« Für Gabriel und seinen Hund ist es die letzte Nacht im Zelt, bevor sie für ein paar Tage in einem besetzten Haus unterkommen können. »Endlich hat der Spuk hier ein Ende«, seufzt er. »Ich hoffe, ich muss hier nie wieder schlafen.«

»Man sieht sich im nächsten Winter, Großer!«, ruft man mir hinterher als ich ein letztes Mal das Zelt verlasse. »Vorausgesetzt wir schaffen’s bis dahin …«, höre ich noch jemanden murmeln, dann fällt die hölzerne Tür ins Schloss. Ich öffne den Reißverschluss meiner Jacke und schiebe mein Rad durch die nächtlichen Straßen meines Viertels. Vor einem Spätkauf trinken Jugendliche Wodka-Mate, auf einer Parkbank turtelt ein Pärchen, im Schein einer Straßenlaterne sitzt ein Punk und spielt Flöte. Als ich ihm 50 Cent hinwerfe, hebt er seinen imaginären Hut. Ich setze mich auf den Bordstein und höre ihm noch ein wenig zu.